ARCHITEKTUREN DES ÜBERLEBENS

Das Ausstellungsprojekt Architekturen des Überlebens im Jüdischen Museum Frankfurt widmet sich den außergewöhnlichen und oft übersehenen Zufluchtsorten, die Juden im besetzten Polen und der Ukraine während des Holocausts nutzten. Etwa 50.000 Juden fanden in Baumhöhlen, Schränken, Kellern und Abwasserkanälen Schutz vor Verfolgung. Diese Orte, so unwahrscheinlich und ungeeignet sie auch erscheinen mögen, wurden zu lebensrettenden Architekturen des Überlebens.

Die Architektin, Politikwissenschaftlerin und Künstlerin Natalia Romik erforschte diese noch heute existierenden Verstecke, deren Geschichten erstmals in Deutschland präsentiert werden. Ihre Arbeit würdigt die kreative Nutzung minimaler Ressourcen und den ungebrochenen Überlebenswillen der Menschen, die dort Zuflucht fanden. Diese Ausstellung verdeutlicht, wie fragil und zugleich bedeutsam diese Architekturen sind.

Die gleichnamige Publikation begleitet die Ausstellung und vertieft das Verständnis für die physische und historische Realität dieser Verstecke. Sie beleuchtet das komplexe Verhältnis zwischen Architektur, Gewalt und Erinnerungskultur und macht unsichtbare Orte sichtbar. So wird ein interdisziplinärer Zugang geschaffen, der die Bedeutung dieser verletzlichen Überlebensarchitekturen für die heutige Erinnerungskultur herausstellt.

Im Gespräch mit der Museumsdirektorin Mirjam Wenzel (Jüdisches Museum Frankfurt) und der Historikerin Barbara Kirshenblatt-Gimblett (Europäisches Kolleg Jena) spricht Natalia Romik über die verschiedenen Forschungsansätze, anhand derer sie sich dem gemeinsamen Projekt genähert haben.


Warsaw: 3D-Scans des Verstecks auf dem jüdischen Friedhof, wo sich Abraham Carmi in Warschau (Polen) versteckt hielt, Przemysław Kluźniak (ArchiTube)

Mirjam Wenzel: Liebe Natalia, liebe Barbara, in eurer kuratorischen und theoretischen Arbeit betreibt ihr beide eine kulturelle Archäologie der jüdischen Vergangenheit in Polen, und denkt dabei auch beide über Paradigmen der Darstellung nach. Was sind die Motive für eure Arbeit? Und wann habt ihr euch kennengelernt?

Natalia Romik: Wir haben uns 2009 kennengelernt, als ich am Design der ständigen Ausstellung im POLIN, dem Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau arbeitete. Ich bin mittlerweile nicht mehr ausschließlich als Ausstellungsdesignerin tätig, und damit hat sich auch die Motivation für meine Arbeit verändert. Meine Arbeit als Künstlerin und Forscherin geht auf die Unzufriedenheit damit zurück, was derzeit mit postjüdischer Architektur oder postjüdischem Eigentum in Polen und in Osteuropa, vor allem in Kleinstädten, geschieht, und auch im größeren Rahmen. Ich glaube, diese Unzufriedenheit ist mein Hauptimpuls, Ausstellungen zu entwickeln, künstlerische Objekte zu entwerfen und über jüdische Geschichte zu forschen, mit einem Schwerpunkt auf Architektur, städtischer Umwelt und Gedenkkulturen.

Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Zum Thema der jüdischen Kultur in Osteuropa kam ich eher zufällig, als ich an meiner Promotion an der Indiana University arbeitete. 1967 belegte ich ein Seminar über Feldforschungsmethoden, und irgendwann erfuhr mein Professor, dass ich Jiddisch kann. Da sagte er zu mir: »Wenn Sie Jiddisch können, warum machen Sie nicht etwas über jiddische Folklore?« Ich bin daraufhin zurück zu meiner Familie nach Toronto gegangen, und stellte dann fest, dass der Heimatort meines Vaters in Polen noch immer eine wahre Goldgrube an Erinnerungen an das jüdische Leben war. Ich erfuhr damals auch, dass die ernsthafte Erforschung des Themas im späten 19. Jahrhundert anfing und dann weiter gedieh durch die Gründung des YIVO (Jüdisches Wissenschaftliches Institut) in Vilnius im Jahr 1925. Ebenfalls 1967 brachte mich der ehemalige Leiter meiner zionistischen Sommerlager, der jiddische Linguist Mikhl Herzog, nach New York und zum YIVO. Er stellte mich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am YIVO vor, von denen die meisten aus Polen stammten und den Holocaust überlebt hatten. Viele von ihnen hatten schon am YIVO in Vilnius gearbeitet. Dass eine junge Frau bei ihnen auftauchte, die eine Doktorarbeit über jiddische Folklore schrieb, machte ihnen Hoffnung für die Zukunft. Als ich also diesen großen Schatz an jiddischer Folklore in meiner eigenen Familie entdeckte und erfuhr, dass jiddische Folklore und jüdische Ethnografie dank des YIVO ein ernstzunehmendes Forschungsfeld waren, fand ich meinen Weg und meine Aufgabe – eine intellektuelle Tradition weiterzuführen, die von einer Generation von Gelehrten in Vilna begründet worden war, die während des Holocausts ums Leben gekommen waren.

Natalia Romik: Einer meiner ersten Aufträge als Architektin war die Renovierung der Synagoge aus dem 18. Jahrhundert in der Kleinstadt Chmielnik, bei der ich für die Gestaltung der Bima [das erhöhte Podium, von dem die Tora verlesen wird] verantwortlich war. Die ursprüngliche Synagoge war von den Nazis niedergebrannt und zerstört worden. Ich habe bei dieser Arbeit viel über die Unheimlichkeit des jüdischen Erinnerns und Gedenkens nachgedacht, nicht nur in dieser Stadt, sondern in Polen insgesamt. Um die paradoxe anwesende Abwesenheit der jüdischen Gemeinden zum Ausdruck zu bringen, habe ich die Bima vollständig aus Glas nachgebaut – ein Gespenst, ein Phantom ihres früheren Selbst. Mein Interesse an dem Thema reicht aber weiter zurück. Im Jahr 2007 unternahm ich zusammen mit Arkadiusz Dybel und Dorota Gorbelna eine lange und für mich sehr wichtige Reise. Wir besuchten sieben Synagogen in Polen, stellten in ihrem Zentrum jeweils eine Kamera auf und filmten ein paar Stunden lang den Innenraum. Wir nannten dieses Projekt »Verwandlung der Synagogen«. Keine der Synagogen wurde mehr für Gottesdienste genutzt. Die in Poznań (Posen) war ein Schwimmbad, die in Inowłódz ein Laden, die in Opole ein Fernsehstudio.

Lviv: 3D-Scan von Teilen des städtischen Abwassersystems, in dem sich die Familie Chiger in Lemberg (Ukraine) versteckt hielt, Przemysław Kluźniak (ArchiTube)

Mirjam Wenzel: Ihr beide beschäftigt euch schon seit Langem mit der Erforschung des polnisch-jüdischen Erbes. Während Barbaras Forschungsarbeit mit den aus Osteuropa nach Kanada eingewanderten Jüdinnen und Juden begann, befasste sich Natalia mit dem Erbe an Orten, deren frühere Besitzer abwesend sind. Mit der Entwicklung des POLIN-Museums hast du, liebe Barbara, das Wissen um dieses Erbe und die Geschichten zurück nach Polen gebracht. Du, liebe Natalia, bist in Polen aufgewachsen und warst verstört über den Mangel an Wissen über das jüdische Erbe und hast es dir zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein dafür zu schärfen.

Natalia Romik: Anfang der 1990er-Jahre wusste in Polen praktisch niemand etwas über die Geschichte des Ortes, an dem er oder sie lebte. In polnischen Schulen, vor allem in den Kleinstädten, kam die jüdische Geschichte des eigenen Ortes im Unterricht nicht vor. Nur wenige Menschen wollten sich mit diesen Geschichten auseinandersetzen – sie lagen verschüttet unter einer Kultur der gewollten oder ungewollten Amnesie. Zum Beispiel wusste praktisch niemand von den Memorbüchern (Yizkor-Büchern), die der Erinnerung an das Leben und die Zerstörung jüdischer Gemeinden gewidmet sind. Die Bücher wurden von Juden geschrieben, die den Holocaust überlebt hatten. Es gibt solche Bücher für viele polnische Städte. So kam ich zu der Frage, wie wir die Erinnerung und das jüdische Erbe bewahren können, vor allem in Bezug auf die postjüdische Architektur, die durch ihre Materialität fassbarer und zugleich vom Verfall bedroht ist. Ich halte das auch heute noch für eine sehr wichtige Frage.

Das gesamte Interview finden Sie in unserer Publikation Architekturen des Überlebens – Reflexionen zur Ausstellung Hideouts von Natalia Romik, welche in deutscher und englischer Sprachausgabe erhältlich ist.

Architekturen des Überlebens | Hateje Cantz Verlag


Header Image: © Jakob Celej

Veröffentlicht am: 24.05.2024