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INTERVIEW MIT RAINER ROTHER
Als ich an einem windigen Vormittag den Potsdamer Platz erreiche, fällt mir auf, wie sehr dieser menschenleere Ort mit seinen gläsernen Fassaden und hohen Gebäuden doch an ein Filmset erinnert. Der perfekte Ort also für mein Gespräch mit Rainer Rother, dem Leiter der Deutschen Kinemathek. Beim Betreten des Hauses der Deutschen Kinemathek überkommt mich eine Mischung aus Nostalgie und Wehmut. Erinnerungen an Filmabende im Kino Arsenal und Besuche im Filmmuseum in meiner Kindehit werden wach. Doch bald geht hier eine Ära zu Ende: Am 31. Oktober wird die Deutsche Kinemathek samt Filmmuseum ihre Türen am Potsdamer Platz nach 24 Jahren für immer schließen – ein Verlust, der viele Filmfreund*innen bewegt.
Rainer Rother heißt mich in seinem Büro, das von langen Regalen mit unzähligen Büchern zur Filmgeschichte durchzogen ist, herzlich willkommen. Rother, seit 2006 Leiter der Berlinale-Retrospektive und der Filmreihe Berlinale Classics, ist eine der zentralen Persönlichkeiten der deutschen Filmgeschichte. Nach seiner Promotion 1988 und einer Dozententätigkeit leitete er ab 1991 die Kinemathek des Deutschen Historischen Museums, wo er wegweisende Ausstellungen kuratierte. Seit 2006 ist er Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und publiziert regelmäßig Bücher, Aufsätze und Zeitungsartikel zu aktuellen und historischen Fragestellungen zum Film.
Das zentrale Thema unseres Gesprächs ist sein neues Buch Der deutsche Film, welches die Geschichte des deutschen Kinos anhand von 3000 Abbildungen und vielen fundierten Textbeiträgen nachzeichnet. Es ist ein bedeutendes Werk, das die reiche Filmgeschichte von 1895 bis heute lebendig werden lässt.
Hatje Cantz: Ich möchte gerne mit einer persönlichen Frage anfangen: Können Sie sich noch an Ihren ersten Kinobesuch erinnern?
Rainer Rother: Meine erste wirklich lebhafte Erinnerung an einen Kinobesuch ist Ben Hur (1959). Damals liefen Filme oft noch länger im Kino, nachdem sie erschienen waren. Ich habe den Film im Metropol-Kino in Vechta bei Oldenburg gesehen.
HC: Das muss eine sehr lebhafte Erinnerung sein, vor allem die Wagenrennen.
RR: Ja, das Wagenrennen hat mich sehr beeindruckt. Es ist klar, dass diese Sequenz das Highlight des Films ist, für das er zu Recht berühmt geworden ist.
HC: Wann hatten Sie denn das erste Mal Kontakt mit dem deutschen Film?
RR: Natürlich habe ich die Karl-May-Verfilmungen gesehen. Winnetou und seine Abenteuer haben mich als junger Mensch sehr bewegt. Es gab aber auch eine Initiative in unserem Kino in Vechta, eine Art Filmclub. Da war auch der Sohn des Kinobesitzers dabei, und wir sahen eine große Vielfalt an Filmen. Darunter waren deutsche Filme wie Die Mörder sind unter uns (1946) und Der Rat der Götter (1950), sogar DEFA-Filme und Dokumentarfilme. Das hatte auch einen sozialkritischen, politischen Hintergrund. Als kritisch eingestellter Jugendlicher habe ich mich also schon sehr früh mit dem deutschen Film aus Ost und West beschäftigt.
HC: Sie haben ein sehr umfassendes Buch geschrieben, Der deutsche Film, welches die Geschichte des deutschen Films von 1895 bis in die Gegenwart nachzeichnet. Wie ging es denn los mit dem deutschen Film 1895?
RR: Es gibt einen wunderbaren Film von Wim Wenders über die Brüder Skladanowsky von 1995, der ihre Geschichte erzählt. Die Skladanowskys haben am 1. November 1895 im Berliner Wintergarten Varieté die erste öffentliche Vorführung von Bewegtbildern gemacht. Ihre Technik war der der Gebrüder Lumières unterlegen und sie haben das auch schnell erkannt und sich anders orientiert. Aber diese erste Vorführung vor großem Publikum in Berlin bleibt ein Meilenstein. In unserem Archiv haben wir einige ihrer Aufnahmen und Teile des Bioskop 2, mit dem sie gefilmt haben. Somit beginnt die Geschichte des deutschen Films auch in unseren Sammlungen mit dem Jahr 1895.
HC: Der deutsche Film hat sich dann ja rasant weiterentwickelt, insbesondere während der Weimarer Republik. Das Kabinett des Dr. Caligari (1920) ist ein sehr prägendes Beispiel. Würden Sie sagen, dass diese Zeit ein Wendepunkt war, als deutsche Filme auch international Ruhm erlangten?
RR: Eigentlich begann das schon früher, wurde aber durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Ab 1912 veränderte sich das System der Filmproduktion. Vorher wurden Filme von den Produktionsfirmen verkauft, aber ab 1912, insbesondere durch den Erfolg von Asta Nielsen, wurden Filme nur noch verliehen. Asta Nielsen war eine schillernde Figur für den damaligen Film und die von ihr produzierten Filme wie Engelein (1913) oder Der fremde Vogel (1911) waren weltweit erfolgreich. Diese Periode zwischen 1912 und 1914 zeigt, dass der deutsche Film bereits vor der Weimarer Republik internationale Ausstrahlung hatte. Aber die Weimarer Republik brachte natürlich die ästhetisch bahnbrechende Phase, die den deutschen Film nachhaltig beeinflusste.
HC: Als dann der Tonfilm kam, hat das die internationale Strahlkraft des deutschen Films beeinträchtigt, weil man plötzlich Sprachbarrieren hatte, oder?
RR: Ja, das war ein Problem für alle großen Filmindustrien. Der Heimatmarkt wurde wichtiger, und der Export schwieriger, auch wegen der Synchronisation, die damals als sehr störend empfunden wurde. Untertitel setzten sich nicht durch. Die Lösung waren mehrsprachige Versionen: Man drehte den gleichen Film in mehreren Sprachen mit verschiedenen Darstellern. Ein Beispiel dafür ist die Tonfilm-Operette Der Kongress tanzt (1931), die international erfolgreich war. Aber das war eine kurze Episode.
HC: Ihr Buch folgt der Chronologie der deutschen Filmgeschichte und enthält fast 3.000 Abbildungen von Filmplakaten, Stills und Objekten aus dem Filmmuseum. Was war die besondere Herausforderung bei diesem Projekt?
RR: Unser Ziel war es, einen möglichst breiten Einblick in unsere Archive und Sammlungen zu geben. Es war uns wichtig, dass die Mitarbeiter*innen, die für die Sammlungen verantwortlich sind, ihre Bereiche auch selbst vorstellen. Das hat sehr gut funktioniert. Viele haben zu diesem Buch beigetragen. Wir wollten die Filmgeschichte auch als Objektgeschichte erzählen, um zu zeigen, dass Film eine Kunst ist, die nur im Kollektiv realisiert werden kann. Nicht nur die Regisseur*innen oder Schauspieler*innen sind wichtig, sondern auch die Kostümbildner*innen, Schnittmeister*innen, Architekt*innen, Musiker*innen, Drehbuchautor*innen und Maskenbildner*innen. Zudem stammen nahezu alle Abbildungen aus unseren Archiven.
HC: Fällt Ihnen ein einzelnes Objekt ein, das für Sie die deutsche Filmgeschichte in besonderem Maße repräsentiert?
RR: Ein Objekt auszuwählen, ist schwierig. Aber die Architekturpläne von Guido Seeber für das Glashaus in Babelsberg aus dem Jahr 1912 sind ein bedeutendes Dokument. Es war das erste Studio außerhalb Berlins und wurde zum Zentrum der deutschen Filmindustrie. Babelsberg entwickelte sich zur bedeutendsten Filmstadt Europas.
HC: Wie sehen Sie die Zukunft des deutschen Films in der heutigen Zeit, besonders angesichts der Digitalisierung und den Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz?
RR: Die deutsche Filmwirtschaft ist sehr kleinteilig organisiert. Viele Firmen produzieren nur einen Film pro Jahr. Das hat Vor- und Nachteile. Der Nachteil ist die geringe Kapitalbasis, was langfristige Planungen erschwert. Der Vorteil ist die Vielfalt der Perspektiven. Allerdings überfordert das auch das Publikum, denn kaum jemand kann 200 deutsche Filme im Jahr sehen. Die eigentliche Frage ist, wie relevant das Kino bleiben wird. Ich bin ein großer Fan des Kinos und glaube, es wird weiterhin wichtig bleiben, besonders für große Produktionen. Aber Streaming-Plattformen bieten neue Distributionskanäle. Allerdings sehen wir bei den Plattformen eine gewisse Zurückhaltung, und das Serienformat zeigt erste Ermüdungserscheinungen. Viele Serien sind nach dem gleichen Muster gestrickt, was das Publikum irgendwann satt macht. Ich denke, wir werden eine Konzentration bei den Streaming-Diensten erleben, und es wird schwieriger werden, dort Beschäftigung zu finden.
HC: Wie wird sich das auf die Filmförderung auswirken? Muss mit Kürzungen gerechnet werden?
RR: Die politisch freigegebenen Gelder stehen weiterhin zur Verfügung. Allerdings nehmen die von der Branche selbst generierten Einnahmen ab, da die Kinozahlen zurückgehen. Das macht die Situation komplizierter, da die Produktionskosten steigen und die Einnahmen sinken.
HC: Zum Abschluss noch einmal zurück zum Buch. Das Filmmuseum und die Kinemathek sind bis zum Jahresende geschlossen. Kann man Ihr Buch als eine Art Zusammenfassung der Dauerausstellung verstehen?
RR: Ja, das Buch ist ein Schaufenster in die Archive der Deutschen Kinemathek. Es bietet mit seinen fast 3000 Abbildungen einen reichhaltigeren Einblick in unsere Sammlungen, als die Dauerausstellung je konnte. Es ist unsere Antwort auf die momentane Situation, in der wir keine Ausstellung haben, aber zeigen wollen, dass es uns weiterhin gibt – und dass es Spaß macht, durch unsere Sammlungen zu stöbern, indem man durch das Buch blättert.
Das Buch ist auch in englischer Sprache und als EBook erhältlich.
Das Interview führte László Rupp im September 2024.