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INTERVIEW MIT RAPHAËL BOUVIER
Raphaël Bouvier ist Kunsthistoriker und Kurator in der Fondation Beyeler. In diesem Jahr widmet er sich einem ganz besonderen Projekt: einer Ausstellung und einem umfassenden Katalog über den französischen Maler Henri Matisse. Unter dem Titel Einladung zur Reise werden hier berühmte, aber auch weniger bekannte Werke des prägenden Bild- und Farbdenkers und Pioniers des Fauvismus präsentiert. Im Gespräch mit uns gibt Raphaël Bouvier spannende Einblicke in die Entstehung des Projekts und zeitgemäße Perspektiven auf das Werk von Matisse.
Hatje Cantz: Meine erste Frage bezieht sich auf den Titel der Ausstellung und des Buches: Einladung zur Reise. Dieser Titel weist ja einen klaren Bezug zu dem gleichnamigen Gedicht von Baudelaire auf. Welche Parallelen sehen Sie zwischen dieser poetischen Vision Baudelaires und dem künstlerischen Werk von Matisse? Spiegelt sich dieses Motiv auch in der Ausstellung und dem Buch wider?
Raphael Bouvier: Ja, tatsächlich ist Baudelaires Gedicht der Ausgangspunkt der Ausstellung. Allerdings versuchen wir nicht, das Gedicht durch die Werke von Matisse zu illustrieren. Vielmehr geht es um einen losen roten Faden und eine Grundstimmung. Wir sind der Meinung, dass die Themen und die Ästhetik des Gedichts teilweise die Quintessenz der Ästhetik und der künstlerischen Themenwahl von Matisse widerspiegeln. Es gibt jedoch Leitmotive im Gedicht, die mehr oder weniger direkt mit Matisse in Verbindung stehen. Dazu gehört auch der Refrain des Gedichts, das Leitmotiv: Alles ist Schönheit und Ordnung, und dann Luxus, Ruhe und Genuss. Es gibt ein frühes Gemälde von Matisse, dessen Originaltitel Luxe, Calme et Volupté lautet – ein Zitat aus Baudelaires Gedicht. Hier bezieht sich Matisse wirklich direkt auf die Einladung zur Reise.
Ausstellungsansicht Fondation Beyeler; Henri Matisse: Nu bleu I, 1952, Mit Gouache bemalte und ausgeschnittene Papiere auf Papier auf Leinwand, 106,3 x 78,0 cm, Beyeler Museum AG, Riehen, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zürich; Henri Matisse: Nu bleu, la grenouille, 1952, Mit Gouache bemalte und ausgeschnittene Papiere auf Papier auf Leinwand, 150,3 x 142,8 x 11,0 cm, Beyeler Museum AG, Riehen, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zürich Photo: Mark Niedermann
Diese Begriffe – Luxus, Ruhe und Genuss – sind zentrale Aspekte der Ästhetik von Matisses Malerei. Insbesondere das Thema der Ruhe, des Genusses, der Leichtigkeit und vielleicht auch des Luxus im übertragenen Sinne als Überfluss. Diese Begriffe führen letztlich auch das Thema der Idylle und die paradiesische Grundstimmung vor Augen. Bei Matisse findet man immer wieder die Suche nach der Idylle. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum er selbst viel gereist ist. Die Ausstellung kann als eine Reise durch Matisses Werk verstanden werden – Matisse selbst war ein großer Reisender, der, wie er oft betonte, stets auf der Suche nach Licht und Farbe war. In seinen Gemälden spiegelt sich diese Suche nach einer Idylle, einem irdischen Paradies, wider.
Es gibt im Gedicht von Baudelaire bestimmte Momente und Motive, die sich mit spezifischen Gemälden in der Ausstellung verbinden lassen. Dazu gehört das Thema des Traums. Das gesamte Gedicht kann als Traumbild verstanden werden – als eine träumerische Vorstellung des Dichters, der sich vorstellt, mit seiner Geliebten eine Reise in eine idyllische, ideale Welt zu unternehmen. Auch bei Matisse ist der Traum ein häufig wiederkehrendes Thema, das immer wieder implizit oder explizit mitschwingt.
Ein weiteres zentrales Thema im Gedicht ist das Licht und die Farbe. Bei Baudelaire ist es der poetische Ausdruck von Licht und Farbe, bei Matisse manifestiert es sich in der malerischen Farbgebung. Dies äußert sich bei Matisse sowohl in Landschaftsdarstellungen als auch in Interieurszenen. Baudelaire zeigt in seinen Gedichten ein großes Interesse für Innenräume, die er kurz, aber prägnant beschreibt – insbesondere in Bezug auf die Dekoration. Das Dekorative ist natürlich auch ein wichtiges Thema in Matisses Gemälden. Dazu gehört ebenfalls eine gewisse Faszination für das «Orientalische». Allerdings ist der Begriff heute differenzierter zu betrachten als damals. Dennoch bleibt «der Orient» ein Thema, das Baudelaire und Matisse gleichermaßen fasziniert hat.
HC: Auf der einen Seite lässt sich das Motiv der metaphorischen Reise in Matisses Beschäftigung mit Licht und Farbe erkennen, aber er hat auch ganz konkrete Reisen unternommen. Mir fallen seine Reisen im Mittelmeerraum ein, aber auch seine Reisen nach Nordafrika. Gibt es eine besondere Reise, die Matisse unternommen hat und die besonders prägend für sein Werk war?
RB: Tatsächlich war Matisse ein großer Reisender, was vielleicht weniger bekannt ist als bei einem Künstler wie Gauguin, der als solcher berühmt ist. Aber Matisse ist ebenso viel und weit gereist. Er stammt aus dem Norden Frankreichs, doch schon früh manifestierte sich bei ihm die Suche nach dem mediterranen Licht. Seine ersten Reisen führten ihn nach Südfrankreich. Eine seiner ersten größeren Reisen ging nach Korsika, wo er die mediterrane Farbigkeit entdeckte, die später auch in seinem Werk sichtbar wird.
Auch seine Reisen nach Saint-Tropez, das damals noch ein kleines Fischerdorf war, beeinflussten ihn stark, besonders jedoch sein Aufenthalt in Collioure, nahe der spanischen Grenze. Dort, wie man weiß, kam es zur Revolution der Farbe, zur Befreiung der Farbe. Man könnte sagen, dass der Aufenthalt in Collioure der Gründungsmoment des Fauvismus war – eine Revolution in der Kunstgeschichte, in der sich die Farbe von der Darstellung des Gegenstands und des Motivs löste und eine neue Eigenständigkeit und Freiheit erlangte.
Weiterhin waren seine Reisen nach Nordafrika von großer Bedeutung. Zunächst besuchte er Algerien, und etwas später reiste er nach Marokko, wo er auf die islamische Kunst und Ästhetik stieß, die für ihn von enormer Wichtigkeit war. Er sagte sogar, dass er die «Erleuchtung» im «Orient» gefunden habe. Im Kontext seiner Begegnungen mit Nordafrika fand er zu neuen bildnerischen Lösungen und Kompositionsformen. Auch bei seiner Suche nach einer neuen Flächigkeit in der Kunst halfen ihm diese Erfahrungen weiter und bestätigten ihn in seinem künstlerischen Ansatz. Interessant ist auch, dass er während seiner Zeit in Marokko, wo er zweimal hinreiste und jeweils mehrere Monate blieb, direkt vor Ort malte. Besonders in Tanger entstanden viele Gemälde. Normalerweise sammelte Matisse auf seinen Reisen Eindrücke, sah Objekte, die er teilweise erwarb, und verarbeitete diese Eindrücke erst nach seiner Rückkehr nach Frankreich in seinen Werken.
Später in seinem Leben ist auch seine Reise nach Tahiti über die USA erwähnenswert. Matisse selbst bezeichnete dies als die einzige große Reise, die er jemals unternommen hat. Er neigte sonst dazu, seine Reisen eher als Arbeitsaufenthalte oder Ortsveränderungen zu beschreiben. Die Reise nach Tahiti im Jahr 1930, im Alter von 60 Jahren, war ein lang gehegter Wunsch. Auch dort suchte er wieder nach dem Licht, einem Licht in einer anderen Hemisphäre. Dieser Aufenthalt ist besonders und bemerkenswert, weil er während dieser drei Monate eigentlich nichts malte. Er zeichnete ein wenig und fotografierte mehr oder weniger erfolgreich. Erst fünfzehn Jahre später konnte er diese Eindrücke in seiner Kunst umsetzen, vor allem in seinen Scherenschnitten. Er brauchte also die örtliche und zeitliche Distanz, um das Erlebte und Gesehene zu verarbeiten.
Ausstellungsansicht Fondation Beyeler; Henri Matisse: Les Acanthes, 1953, Mit Gouache bemalte und ausgeschnittene Papiere, Kohlezeichnung, auf weiss bemaltem Papier auf Leinwand, 311,7 x 351,8 cm, Beyeler Museum AG, Riehen, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zürich; Henri Matisse: Nu bleu I, 1952, Mit Gouache bemalte und ausgeschnittene Papiere auf Papier auf Leinwand, 106,3 x 78,0 cm, Beyeler Museum AG, Riehen, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zürich; Henri Matisse: Nu bleu, la grenouille, 1952, Mit Gouache bemalte und ausgeschnittene Papiere auf Papier auf Leinwand, 150,3 x 142,8 x 11,0 cm, Beyeler Museum AG, Riehen, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zürich Photo: Mark Niedermann
HC: Das Buch beleuchtet nicht nur die Reisen von Matisse, sondern setzt sich auch kritisch mit seinem Werk und seiner Person auseinander. Es geht zum Beispiel um die Aneignung fremder Kulturen und den sehr männlichen Blick auf Frauen. Was war der Grund dafür, auch diese Aspekte zu thematisieren und darauf hinzuweisen, dass Matisse heute anders gesehen werden muss?
RB: Wir befinden uns heute in einem postkolonialen und feministischen, man könnte sogar sagen postfeministischen Diskurs. Diese neuen und aktuellen Perspektiven sollten unbedingt in die heutige Betrachtung von Künstler*innen und ihren Werken einfließen. Im Fall von Matisse lässt sich feststellen, dass er ein Kind seiner Zeit war. Er lebte und arbeitete während des französischen Kolonialismus, und es ist sicher kein Zufall, dass er auf seinen Reisen häufig französische Kolonien wie Algerien, Marokko und Tahiti besuchte. Diese Orte waren für viele Franzosen seiner Zeit Sehnsuchtsorte.
Die Neugierde für fremde Kulturen war ein Zeitphänomen, das sich auch in der Anthropologie dieser Epoche widerspiegelt und Matisses Interesse weckte. Dies machte ihn zu einem typischen Künstler der klassischen Moderne. Es ging vor allem darum, sich von den Konventionen und Traditionen der akademischen Kunst zu distanzieren und eine neue Ästhetik sowie neue Körperbilder zu erforschen. Diese Suche nach Authentizität und einer neuen Ursprünglichkeit führte die Künstler*innen vor allem zur außereuropäischen Kunst, insbesondere im weit gefassten orientalischen Kontext. Aber auch europäische Kulturen waren für Matisse von Interesse. So beschäftigte er sich beispielsweise mit der spätmittelalterlichen Kunst, die zu seiner Zeit nicht mehr en vogue war, da das starke Interesse an der Renaissance sie in den Hintergrund gedrängt hatte. Er interessierte sich auch für ältere, damals als «primitive Kunst» bezeichnete Ästhetiken der europäischen Kulturgeschichte.
Bei Matisse kann man sagen, dass er oft Ideen aus anderen Kulturen übernimmt oder sich von ihnen inspirieren lässt, was man als Appropriation betrachten könnte. Ich finde jedoch, dass der Begriff des Kulturtransfers treffender ist. Matisse war ein Kulturreisender. Er studierte Kulturen nicht nur in Büchern oder Kunstwerken, sondern ging vor Ort, um sich dort inspirieren zu lassen. Dabei war er sich, wie seine eigenen Aussagen zeigen, auch des Dilemmas dieser Situation bewusst – dass er als Europäer in diese Kulturen eintaucht. Er betonte immer wieder, dass er versuchte, antipittoresk zu sein. Darin zeigt sich ein Bewusstsein für die Problematik, dass ein Europäer mit vielen Vorprägungen, Stereotypen und Projektionen in eine nicht-europäisch geprägte Welt geht. Bereits im 19. Jahrhundert gab es eine Begeisterung für den «Orient», die jedoch extrem idealisierend und erotisierend war. Die Klischees des «Orients» wurden dabei praktisch zelebriert. Matisse war sich dessen bewusst und bemühte sich daher, antipittoresk zu sein und bestimmte Klischees zu vermeiden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist Matisses Blick auf den weiblichen Körper. Der weibliche Körper, oft als Akt dargestellt, ist ein zentrales Thema in seinem Werk, was auch im Buch deutlich wird. Matisses Blick auf den weiblichen Körper ist ein vielschichtiges und facettenreiches Thema. Deshalb haben wir im Katalog versucht, dieses Thema konkret zu beleuchten, und konnten dafür die berühmte Kunsthistorikerin Griselda Pollock gewinnen, die eine Pionierin der feministischen Kunstgeschichte ist. Sie hat einen, wie ich finde, sehr interessanten und erhellenden Text über Matisses Blick auf den weiblichen Körper verfasst, der wirklich aufschlussreich und durchaus kritisch ist.
HC: Gibt es ein Werk aus der Ausstellung, das Sie uns gerne vorstellen möchten, weil es besonders ist?
RB: Das ist eine schwierige Frage, aber ich möchte ein Werk nennen, das mir besonders am Herzen liegt. Es wurde seit über dreißig Jahren nicht mehr in Europa ausgestellt und handelt sich um ein Hauptwerk von Matisse. Es trägt den Titel Badende mit einer Schildkröte und ist ein sehr großformatiges Gemälde von 1907/08, das sich im St. Louis Museum of Art in den USA befindet. Dieser Ort wird von Europäern wohl seltener besucht als zum Beispiel New York oder Washington. Das Gemälde ist jedoch wirklich beeindruckend und man muss es tatsächlich im Original sehen, um die extreme Kraft und Präsenz nachvollziehen zu können. Es wäre fast schon eine eigene Ausstellung wert.
Baigneuses à la tortue, 1907/08, Öl auf Leinwand, 181,60 × 221,00 cm, St. Louis Art Museum
In diesem Werk manifestiert sich sehr prägnant die Grundidee von Matisse, die in den meisten seiner Gemälde mitschwingt: das Prinzip der Farbintensität, die Potenzierung der Farbe sowie das Thema der Reduktion von Form und Figürlichkeit. Matisse sucht hier nach einer neuen Figürlichkeit, jenseits der klassischen Konventionen und Schönheitsideale der europäischen Kunst. Besonders interessant finde ich das Zusammenspiel der Kulturen, das in diesem Werk deutlich wird. Man weiß, dass dieses Bild nach einer wichtigen Reise von Matisse nach Norditalien entstanden ist, die er 1907 unternahm. Er besuchte Florenz, Venedig, Ravenna und vor allem Padua, wo er die berühmten spätmittelalterlichen Fresken Giottos sah, die ihn extrem beeindruckten. Dies schildert er auch explizit in seinen Briefen, in denen er beschreibt, dass Giotto für ihn das Höchste der künstlerischen Gefühle sei. In diesem Gemälde spürt man tatsächlich den Einfluss der biblischen Szenen, die Giotto in der sogenannten Arenakapelle realisiert hat. Gleichzeitig zeigt das Bild auch den Einfluss afrikanischer Kunst, genauer gesagt afrikanischer Skulpturen. Hier spürt man deutlich die Suche nach einer Verbindung zwischen den Kulturen. Da Matisse selbst nie nach Zentralafrika gereist ist, beruhen seine Eindrücke auf den Präsentationen afrikanischer Skulpturen, wie sie zum Beispiel in Paris stattfanden. Es wird deutlich, dass Matisse an einem interkulturellen Austausch interessiert war und nach Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen suchte.
Die Fondation Beyeler ist ein Museum für moderne und zeitgenössische Kunst. Es gilt als eines der schönsten weltweit. Insbesondere mit seinen Ausstellungen renommierter Künstler des 19., 20. und 21. Jahrhunderts hat es sich internationale Anerkennung erworben und als eines der meistbesuchten Kunstmuseen der Schweiz etabliert. Im Mittelpunkt stehen das persönliche Erlebnis und die sinnliche Erfahrung des Besuchers in der Begegnung mit Kunst und Natur.
Das Interview mit Raphaël Bouvier führte László Rupp im August 2024.
Headerbild Raphaël Bouvier Credit: Henri Matisse: Les Acanthes, 1953, Mit Gouache bemalte und ausgeschnittene Papiere, Kohlezeichnung, auf weiss bemaltem Papier auf Leinwand, 311,7 x 351,8 cm, Beyeler Museum AG, Riehen, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zürich; Photo: Matthias Willi