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SHEILA HICKS IM GESPRÄCH MIT ROBERT STORR

Die US-amerikanische Künstlerin Sheila Hicks (*1934 in Hastings, Nebraska) lebt und arbeitet in Paris. Sie studierte an der Yale University bei Josef Albers und arbeitete mehrere Jahre im mexikanischen Guerrero. Während ihrer Zeit in Südamerika tauchte sie tief in die traditionellen Webkunst-Techniken ein. Hicks ist vor allem für ihre raumnehmenden Textil-Arbeiten bekannt, die eine Verbindung zwischen Kunst, Architektur, Körper und Material widerspiegeln und in zahlreichen internationalen Ausstellungen vertreten waren. Mit Sheila Hicks. a little bit of a lot of things feierte sie 2023 ihre erste institutionelle Einzelausstellung im Kunstmuseum St. Gallen in der Schweiz.
Im Gespräch mit dem US-amerikanischen Kunstkritiker, Kurator und Maler Robert Storr (*1949 in Portland, Maine) erzählt sie inwiefern ihre Kindheit ihre künstlerische Praxis formte und wie sie durch ihre Kunst mit verscheidenden Orten und Kulturen in Dialog tritt.
Sheila Hicks: a little bit of a lot of things, Installationsansicht LOK by Kunstmuseum St.Gallen © 2023, ProLitteris, Zurich. Foto: Stefan Altenburger
Robert Storr: In vielerlei Hinsicht ist Sheila eine Ausnahme von dem, was derzeit geschieht. Sie ist eine echte Kosmopolitin. Sie ist jemand, der Kulturen aufnimmt, dann zu ihnen beiträgt und sie im Prozess verändert. Und sie hat in fast jedem denkbaren Kontext und in nahezu jedem erdenklichen Medium gearbeitet. Es war nicht das Streben nach bestimmten Positionen oder Anerkennung, das sie antrieb. Sie arbeitet einfach und produziert weiterhin überraschende, formal und poetisch reiche Werke. Es war der Ehrgeiz für die Arbeit selbst und für ihre eigene Fähigkeit, die Medien zu meistern. Damit möchte ich eine Unterhaltung mit ihr beginnen. Ich wurde daran erinnert, was Gertrude Stein sagte: «Amerika ist mein Land und Paris ist meine Heimatstadt.» Für Sheila war ihre Heimatstadt Santiago, es war Mexiko, es waren eine Reihe anderer Orte. Aber Paris ist wirklich der Gravitationspunkt ihrer Welt. Also, fangen wir dort an, wo sie begonnen hat, und fragen: Wie bist du von Nebraska zu all diesen Orten gekommen? […]
Woher stammt dein Selbstverständnis als Künstlerin? Aus deinem familiären Umfeld? War es die Arbeit mit traditionellen Handwerken, traditionellen Methoden? Woher kommt es?
Sheila Hicks: Das ist eine gute Frage, auf die es wahrscheinlich nur eine dumme Antwort gibt. Ich wurde in den 1930er-Jahren geboren. Während der Wirtschaftskrise in den Dreißigerjahren suchte mein Vater nach Arbeit. Er packte seine beiden Kinder auf den Rücksitz des Autos und wir fuhren mit unserer Mutter durch die Vereinigten Staaten. Er arbeitete an verschiedenen Orten und mein Bruder und ich lebten auf dem Rücksitz. Wir haben uns beschäftigt, indem wir aus dem Fenster schauten, Spiele spielten, Dinge aufgesammelt haben, wo immer wir anhielten, und Dinge zusammengebastelt haben. Es war Improvisation und Bricolage, von Stadt zu Stadt. Einmal haben wir Louis Armstrong in New Orleans gehört, wie er beim Mardi Gras auf der Straße spielte. Ich saß auf den Schultern meines Vaters. Ich habe großartige Erinnerungen an die Vereinigten Staaten. Und ich bin immer noch auf derselben Spur. Als ich aufwuchs, habe ich die Welt beobachtet und versucht, sie zu verstehen. Ich stellte mir vor, wie etwas anders sein könnte – Version eins, Version zwei, Version drei. Während der Eröffnung meiner Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen bat ich die Leute, die schwarz gekleidet waren, auf einer Seite des Raums zu stehen, und alle anderen auf der anderen Seite. Das veränderte die Atmosphäre des ehemaligen Bahnhofs und ließ alle Werke anders aussehen, was uns alle, einschließlich der Besucher, die gekommen waren, dazu brachte, alles aus einer neuen, neugierigen Perspektive zu betrachten.
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RS: Du scheinst die Politik auf eine sehr subtile Weise zu umgehen. Das entspricht nicht den aktuellen Zeiten. Widerstehst du dem politischen Diskurs? Im Kunstbetrieb gibt es Stile und Diskurse, und besonders in Frankreich gibt es Diskurse. Du scheinst keinen Diskurs zu haben, obwohl du eine lange kreative Karriere hast, sehr artikuliert bist und die Themen kennst. Kannst du erklären, wie du dich in diesem Labyrinth bewegst?
SH: Ich dränge anderen meine eigenen Themen, meine persönlichen Anliegen nicht auf, weil sie mit den Werken leben müssen, die ich zurücklasse. Wenn ich den Raum verlasse und sie mit etwas zurückbleiben, das ich gemacht habe und dass sie vielleicht in ihrem Haus oder an ihrem Arbeitsplatz haben, hoffe ich, dass ich etwas hinterlasse, das ihnen hilft, in Harmonie, optimistisch und vielleicht mit einem Hauch Freude zu leben. Ich werde ihnen nicht alle Probleme aufbürden, die ich möglicherweise in meinem Rucksack habe.
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RS: [...] Als du bei Josef Albers studiert hast, war er einer der Überlebenden des ursprünglichen Bauhauses. Wie viel davon kommt von ihm, oder hast du das schon immer gedacht?
SH: Es lohnt sich auf jeden Fall, zur Schule zu gehen. Ich erinnere mich, wie ich in George Kublers Kunstgeschichtskurs in Yale saß. Er zeigte Dinge aus der prä-inkaischen Zivilisation, als sehr kleine Gemeinschaften in den Anden verteilt waren und ihr individuelles Leben und ihre Rituale erfanden. Kubler projizierte Bilder von Mumienbündeln, um zu illustrieren, wie diese Gruppen ihre Verstorbenen bewahrten. Sie wickelten sie und ihre Besitztümer in schöne Materialien, die sie aus Lamas, Guanakos, Vikunjas und Alpakas herstellten, mit Fäden, die gekreuzt und verwoben wurden, um zu Stoffen oder Bändern zu werden. Kublers Dias zeigten, was diesen Menschen wichtig war und was sie mit in die nächste Welt nahmen. Das faszinierte mich und ich begann zu unterscheiden, warum bestimmte Regionen und Höhenlagen in den Anden beeinflussen, wie Menschen leben und sich kleiden, und wie sie sich schützten. Dann, als ich reiste, beobachtete ich jede Gemeinschaft, um zu sehen, wie die Menschen in sehr heißen Gebieten praktisch keine Kleidung tragen, sondern nur zeremonielle oder rituelle Umhüllungen, und wie wir uns selbst einwickeln und warum wir es auf bestimmte Weise tun. Ich wurde auch von religiösen Ritualen fasziniert. Jede Religion hat ihre eigene Art, Dinge zeremoniell zu umwickeln und in bestimmten Mustern und Farben zu präsentieren, die entweder schockierend oder sehr mild und friedlich oder kariert oder gekreuzt sind. All dies wurde zu einer Art internationaler Sprache. Mir wurde klar, dass man, wenn man Fäden lesen kann, ganze Geschichten und Zivilisationen lesen kann. Kublers Klasse hat mir das eröffnet. Albers hatte eine sehr praktische Denkweise und sprach kaum Englisch. Ich arbeitete an einem ernsthaften Gemälde, wissend, dass er hereinkommen und es kommentieren würde, aber auf dem Arbeitstisch experimentierte ich auch, machte Dinge wie damals auf dem Rücksitz des Autos. Er sah das Gemälde an und sagte: «aso, aso», okay, mach weiter, mach weiter. Und dann sagte er: «Was ist das, Mädchen?» Er sah, womit ich spielte und was ich zu machen versuchte. Eines Tages kam er herein und sagte, geh ins Büro und sag Clancy, er soll dir ein paar Papiere geben, die ich für dich hinterlegt habe. Darunter war ein Fulbright- Stipendium, um nach Chile zu gehen. Ich ging dann in die Bibliothek und zog einen Atlas heraus, um herauszufinden, wo Chile war.
RS: Wurdest du in Frankreich jemals aufgefordert zu lehren? Hast du jemals daran gedacht, in die Welt zurückzukehren, aus der du gekommen bist und in der all diese Dinge für dich geschehen sind? Oder hast du einfach mit deiner Arbeit weitergemacht?
SH: Ich unterrichte jeden Tag in meinem Atelier. Ich unterrichte nicht bewusst im Sinne von «Ich lehre jetzt», ich teile einfach. Es ist das System der Lehre. Wir machen etwas, wir schauen es an, vier Augen sind besser als zwei, sechs Augen sind noch besser, acht Augen sind am besten. Und jetzt haben wir den Mut zu sagen, was unsere Augen sehen, was unsere Augen denken und was unsere Augen uns sagen. Teilen wir, was wir sehen und denken, und wie können wir es besser oder anders machen. Es ist eine Lernsituation, wann immer man mit jemandem zusammenarbeitet.
Das vollständige Interview finden Sie zum Nachlesen in unserer Publikation Sheila Hicks. a little bit of a lot of things.
Headerbild Sheila Hicks © Kunstmuseum St. Gallen Foto: Daniel Ammann