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NEUE LEIPZIGER SCHULE
»Das Gegenständliche, das zeichnerisch Akzentuierte und ein historisch reich definiertes ideelles Weltbild – alles mit neuer Freiheit gehandhabt – sind meine Leipziger Wurzeln.« ⸺ Neo Rauch
»Leipzig kommt«, verkündeten selbstbewusst der Kunstkritiker Peter Guth und sieben junge Künstler im Katalog zur Ausstellung sieben mal malerei , die im April 2003 im Neuen Leipziger Kunstverein und im Museum der Bildenden Künste Leipzig eröffnet wurde. Und sie sollten, was die Malerei aus Leipzig betrifft, Recht behalten. In der Ausstellung präsentiert wurden gegenständliche Gemälde, die sich in Sujet und Ausführung allerdings stark voneinander unterschieden. Zu sehen waren Räume und Landschaften mit mal mehr, mal weniger abstrakten Anteilen, die Werke spielten mit architektonischen Elementen oder ließen bisweilen traumhafte, surreal und romantisch inspirierte Bildwelten entstehen, die menschenleer waren oder von wenigen, oft in sich gekehrten Figuren belebt wurden.
Die Urheber dieser Gemälde – Tilo Baumgärtel (*1972 in Leipzig), Peter Busch (*1971 in Sondershausen, Thüringen), Tim Eitel (*1971 in Leonberg, Baden-Württemberg), Martin Kobe (*1973 in Dresden), Christoph Ruckhäberle (*1972 in Pfaffenhofen, Bayern), David Schnell (*1971 in Bergisch-Gladbach, Nordrhein-Westfalen) und Matthias Weischer (*1973 in Elte, Nordrhein-Westfalen) – hatten erst kurz zuvor ihr Studium der Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig abgeschlossen und bereits in Einzel- und Gruppenausstellungen von sich reden gemacht. Sie wurden von den Galeristen Gerd Harry Lybke (Galerie Eigen+Art, Leipzig, Berlin) und Matthias Kleindienst (Galerie Kleindienst, Leipzig) gefördert und hatten zusammen mit vier weiteren Künstlern 2002 in Berlin die äußerst erfolgreiche Produzentengalerie LIGA gegründet, die von Christian Ehrentraut, vorher Mitarbeiter bei Eigen+Art, geleitet wurde.
»Neue Leipziger Schule« hieß das Schlagwort, unter dem sie und weitere Absolventinnen und Absolventen der Leipziger Akademie kurz nach der Jahrtausendwende vom Geheimtipp zum Hype auf dem Kunstmarkt werden sollten. Die Ausstellung sieben mal malerei jedenfalls wurde zu großen Teilen von dem amerikanischen Sammlerehepaar Don und Mera Rubell erworben, das die gekauften Werke anderthalb Jahre später, im Dezember 2004, unter dem Titel Northern Light. Leipzig in Miami parallel zur Art Basel Miami Beach in ihrer privaten Kunsthalle präsentierte. Nach weiteren Ankäufen stellten die Rubells die Ausstellung Life after Death. New Leipzig Paintings from the Rubell Family Collection zusammen, die durch zahlreiche amerikanische Museen wanderte. »Leipzig« war in aller Munde, und die Jagd renommierter, internationaler Sammler nach den begehrten Gemälden trieb die Preise in sechsstellige Höhen.
Doch was verbirgt sich hinter der Neuen Leipziger Schule? Der Begriff ist umstritten, und er wird von den darunter subsummierten Künstlerinnen und Künstlern als »Branding« des Kunstmarkts aufgefasst, mit dem sie sich nur bedingt identifizieren. Historisch betrachtet, lehnt sich der Terminus an den von Kunstjournalisten in den 1970er-Jahren geprägten Begriff der »Leipziger Schule« an. Damit wurden damals an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig lehrende Maler bezeichnet, denen es ab den 1960er-Jahren gelungen war, das formal und inhaltlich enge Korsett des in der DDR propagierten sozialistischen Realismus schrittweise zu erweitern. Ihre Malerei blieb figurativ, doch entfalteten diese Künstler in Anknüpfung an die klassische Moderne und frühere kunstgeschichtliche Epochen ein stilistisch und thematisch breites Ausdrucksspektrum, das in der damaligen Bundesrepublik als originäre, »DDR-spezifische« Kunst gewürdigt wurde.
Die Hauptvertreter der Leipziger Schule, Bernhard Heisig (1925–2011), Wolfgang Mattheuer (1927–2004) und Werner Tübke (1929–2004), allesamt Professoren an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, wurden 1977 zur documenta 6 eingeladen und ihre Werke von dem Kölner Sammler Peter Ludwig angekauft. Die Vermittlung gegenständlicher Malerei und eine fundierte handwerkliche Ausbildung kennzeichneten weiterhin und auch nach der Wende den Unterricht an der Hochschule. Zu Heisigs, Mattheuers und Tübkes Schülern und damit zur zweiten Generation der Leipziger Schule gehören Arno Rink (*1940 in Schlotheim) und Sighard Gille (*1941 in Eilenburg), die als Professoren durch ihre Lehre entscheidend zum Phänomen der Neuen Leipziger Schule beitrugen.
Als deren eigentlicher Wegbereiter und berühmtester Protagonist gilt Neo Rauch (*1960 in Leipzig), der in den 1980er-Jahren bei Arno Rink und Bernhard Heisig studierte und von 1993 bis 1998 Assistent an der Hochschule war. Hier entwickelte er in Auseinandersetzung mit der Tradition an der Akademie eine neuartige figurative Malerei, die auch Elemente der Pop-Art, von Comics und Werbegrafik aufnahm und sich zunächst durch einen grafisch-linearen Stil auszeichnete, dann jedoch mehr und mehr hin zu einer farbigen Plastizität entwickelte. Charakteristisch für Neo Rauchs Werke sind traumartige Szenen, die aus persönlichen Erinnerungen und Gefühlen hervorgehen. Die in seinen Arbeiten immer wieder auftauchenden Gegenstände und Figuren, die in einem scheinbar narrativen Zusammenhang auf unterschiedlichen Bildebenen angesiedelt sind, geben dem Betrachter allerdings kaum lösbare Rätsel auf und verweigern sich einer eindeutigen Lesart. Mit diesen enigmatischen Gemälden trat der Künstler ab 1993 an die Öffentlichkeit und stieg, unterstützt durch seinen umtriebigen Galeristen Gerd Harry Lybke, zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Künstler der Gegenwart auf.
So wurde mit Neo Rauch um die Jahrtausendwende auch international das Comeback einer deutschen, figurativen Malerei gefeiert, die nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges Kunsttraditionen aus Ost und West in sich zu vereinen schien. Anlässlich einer Ausstellung in der New Yorker David Zwirner Gallery 2002 bezeichnete Roberta Smith, Kunstkritikerin der New York Times, Neo Rauch als »Maler, der aus der Kälte kam« und einen »markanten pop-surrealistischen-sozial-realistischen Stil entwickelt« habe (New York Times, 26.4.2002). Plötzlich galt »Kraut Art«, möglichst im »Ost-Realo-Look« (Der Spiegel, 15/2004) als en vogue, und junge Talente, vor allem aus Leipzig, waren, wie schon eingangs beschrieben, sehr gefragt. Der Kunstmarkthype um die junge deutsche Malerei im Allgemeinen und die Neue Leipziger Schule im Besonderen hielt bis 2009 an. Dann brachen im Zuge der Finanzkrise die Preise ein, auch wenn die Werke der bekannten Protagonisten nach wie vor gefragt sind.
Die Generation um Tilo Baumgärtel, Tim Eitel & Co. zählt möglicherweise zu den letzten Malern, die aus der Tradition der Leipziger Schule hervorgegangen sind. Denn das Klima an der Hochschule hat sich geändert: Nachdem Neo Rauch 2009 seine Professur zurückgab, die er in Nachfolge von Arno Rink vier Jahre zuvor angetreten hatte, wurde zu seinem großen Ärger statt des von ihm vorgeschlagenen belgischen Malers Michaël Borremans (*1963 in Geraardsbergen) der Rheinländer Heribert C. Ottersbach (*1960 in Köln) berufen. Dieser malt zwar gegenständlich, pflegt jedoch einen gänzlich anderen Unterrichtsstil. »Die Neue Leipziger Schule ist tot«, konstatierte daraufhin Arno Rink, und Neo Rauch erklärte: »Das Profil der Leipziger Schule wird jetzt austauschbar.« (Die Welt, 14.8.2009).