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VIDEOKUNST
»Wir wollen Video-Kunst nicht nur zur großen Kunst hin entwickeln, sondern sie als die höchst entwickelte Kunstform sehen, die die Menschheit je geschaffen hat.« ⸺ Nam June Paik
Entstanden als Kunstform in den frühen 1960er-Jahren in Deutschland und Amerika ist sie mittlerweile zu einem der einflussreichsten Genres der Kunst des 20. Jahrhunderts avanciert: die Videokunst.
Im Jahr 1963 zeigte der in Deutschland lebende koreanische Künstler Nam June Paik (*1932) in einer Wuppertaler Galerie die Installation Exposition of Music – Electronic Television. Sie bestand aus zwölf Fernsehgeräten, deren Empfang gestört wurde, kombiniert mit Klangobjekten und vier präparierten Klavieren. Obwohl Paik noch gar keine Videotechnik benutzte (diese war erst wenige Jahre zuvor für den professionellen Einsatz beim Fernsehen entwickelt worden), gilt Exposition of Music – Electronic Television als erstes Werk der Videokunst: In Form und Aussage erwies sich die Installation als richtungweisend für ein Medium, das mittlerweile auf eine 40-jährige Geschichte zurückblicken kann.
Noch bevor 1965 in den USA die ersten tragbaren Videokameras auf den Markt kamen, entwickelte sich also eine Medienkunst, die sich kritisch mit dem Thema Fernsehen auseinander setzte. Zentraler Kritikpunkt war die einseitige Beziehung von Sender und Empfänger, die ja nicht durch die Technik vorgegeben ist, sondern von staatlichen Monopolen diktiert wird. Ein radikaler Vertreter dieser medienkritischen Richtung war der deutsche Künstler Wolf Vostell (1932–1998), der Anfang der 1960er-Jahre Fernsehgeräte in Performances mit Sahnetorten bewarf, sie einbetonieren, begraben oder sogar erschießen ließ. Das erste »echte« Videoband stammt von Nam June Paik, der 1965, während seiner New Yorker Zeit, eine der ersten Videokameras kaufte und den aufgenommenen Film kurz danach in einem Café zeigte.
Fernsehgeräte oder Monitore standen in den sechziger und siebziger Jahren formal im Mittelpunkt der Performances und Installationen. Um die Passivität der Betrachtenden aufzuheben, konnte dieser in vielen Fällen die Darstellung auf den Monitoren beeinflussen. Die Videoskulptur ist ein typisches Produkt dieser ersten Phase der Videokunst und bis heute eine gebräuchliche Form. Häufig wird eine größere Anzahl von Geräten verwendet, deren Bilder gekoppelt sind. Ein bekanntes neueres Beispiel ist Fabrizio Plessis so genanntes Wasserrad im Karlsruher ZKM: Die Videoskulptur Tempo Liquido (1993) erinnert an ein Mühlrad, das aus 21 Monitoren besteht, auf denen Videoaufnahmen von herabstürzendem Wasser zu sehen sind. Das fünf Meter hohe Rad dreht sich in einem Wasserkanal mit echtem Wasser und regt so dazu an, über das Verhältnis von Illusion und Wirklichkeit nachzudenken.
An der neuen Technik faszinierte Künstler*innen und Publikum besonders die Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Wiedergabe. Die ersten Closed-circuit-Aufbauten, bei denen also ohne zeitliche Verzögerung die von einer Videokamera aufgenommenen Bilder auf einem Bildschirm zu sehen waren, lösten eine Verblüffung aus, die uns heute kaum noch nachvollziehbar erscheint. Der Amerikaner Bruce Nauman (*1941) installierte beispielsweise zwei Monitore am Ende eines schmalen Ganges. Auf beiden Bildschirmen war der Gang zu sehen, wobei der obere Monitor immer nur den leeren Raum zeigte, der untere jeweils live den Besucher*innen, der gerade den Gang hinunterging (Live Taped Video Corridor, 1969/70). Nauman spielt in dieser Arbeit aber nicht nur mit den technischen Möglichkeiten, sondern leitet zu einem der ganz großen Themen der Videokunst über: den komplexen Fragen von Raum- und Zeitwahrnehmung.
»Video ist wie ein Bleistift.« ⸺ John Baldessari
Ende der 1970er Jahre hatte sich die Videokunst bereits so weit etabliert, dass Museen die ersten größeren Ausstellungen zeigten. Die documenta 6 (1977) hatte eine umfangreiche Videoabteilung und trug den Titel Kunst und Medien. Das Eröffnungsprogramm gestalteten Nam June Paik, Joseph Beuys und Douglas Davis. Es wurde weltweit über Satellit ausgestrahlt, 28 Videobänder waren in den folgenden Wochen im deutschen Fernsehen zu sehen. Doch obwohl bis heute immer wieder einzelne Fernsehsender Videokunst ausstrahlen und sich beide Medien gegenseitig stark beeinflussen, hat sich die Hoffnung der Künstler*innen auf eine starke Präsenz der Videokunst im Fernsehen nicht erfüllt.
Mehrere Pionier*innen der Videokunst hatten seit Ende der siebziger Jahre Lehrstühle an Kunstakademien (Nam June Paik beispielsweise seit 1979 in Düsseldorf). In den 1980ern wächst die erste Generation von Künstleri*nnen heran, die ihre Laufbahn direkt mit der Videokunst startet. Ende der 1980er-Jahre wird die Videokunst immer populärer und begeistert das Publikum der documenta 8 (1987) und IX (1992).
Ästhetisch wird die Videokunst in dieser Phase immer mehr von den wachsenden technischen Möglichkeiten bestimmt. Die Videoarbeit Artifacts (1980) des New Yorker Künstlerpaares Steina (*1940) und Woody Vasulka (*1937) griff erstmals in die elektronische Struktur des Bildes ein. Solche technischen Manipulationen sind Teil des Bestrebens vieler Videokünstler*innen, aus dem Medium selbst heraus eine spezifische Ästhetik und Bildsprache zu schaffen. Der technische Fortschritt erlaubt jetzt Farbaufnahmen und präzise Schnitte, neue Möglichkeiten der Kombination von Bild und Ton, Überblendungs- und Trickeffekte. Bald wird das Spektrum durch Einbeziehung der Computertechnologie noch um ein Vielfaches erweitert. Mit der Entwicklung der digitalen Bildbearbeitung sind der Manipulation vorhandener und der Generierung künstlicher Bilder keinerlei Grenzen mehr gesetzt.
Der formale Trend geht seit den achtziger Jahren zum sorgfältig montierten und bearbeiteten Videoband. Häufig benutzen die Künstler dazu vorgefundenes Material, das für andere Zwecke produziert wurde: Bänder von Überwachungskameras, Fernsehmitschnitte, Hollywoodfilme, Fragmente privater Videobänder. Marcel Odenbachs Videoinstallation Vogel friß oder stirb von 1989 umkreist auf diese Weise das Thema Tod. Während auf einem Monitor Bilder der Stadt Venedig, Dokumentaraufnahmen von Hinrichtungen und der todkranke Schauspieler Rock Hudson zu sehen sind, laufen auf zwei gegenüberliegenden Bildschirmen Nahaufnahmen der Tauben auf dem Markusplatz. Dazu erklingen afrikanische Klagelieder. Die Installation weckt bedrückende Assoziationen und verweist auf das, was hinter Bildern und Worten verborgen sein könnte, aber letztlich nicht dargestellt und erfasst werden kann.
In den achtziger Jahren etabliert sich im Fernsehen zudem das Musikvideo. Die ästhetischen Wechselwirkungen zwischen der kommerziellen und der künstlerischen Nutzung der Videotechnik sind komplex und kaum zu überschauen. Die raschen Schnitte und die perfekte Dramaturgie, mit der Musikvideos in wenigen Minuten eine Geschichte erzählen oder eine bestimmte Atmosphäre schaffen, verändern nachhaltig die Art, mit der bewegte Bilder wahrgenommen werden.
Auch beim Künstlervideo schraubt sich der technische und personelle Aufwand in die Höhe. Einige Künstler inszenieren ihre Werke mit Schauspielern und aufwändiger Ausstattung. Arbeiten wie Matthew Barneys 2002 vollendeter Cremaster Cycle sind von der Filmkunst nicht mehr zu trennen und werden ebenso in Kinos wie im musealen Kontext präsentiert. Viele Videokünstler hinterfragen aber weiterhin kritisch die Macht der leicht konsumierbaren Bilder und ihre scheinbare Authentizität. Dazu spielen sie mit den Sehgewohnheiten einer von der Allgegenwart des Bildschirms geprägten Kultur. Sie paraphrasieren bekannte Genres – den Thriller, den Dokumentarfilm, die Seifenoper – und verfremden oder vermischen die im Kino und Fernsehen streng voneinander getrennten Formen.
Kombiniert mit narrativen Strukturen ist die Technik des Zitierens und Collagierens – neuerdings in Anlehnung an das populäre musikalische Verfahren auch gerne »Sampling« genannt – die kommerziell erfolgreichste Variante des Künstlervideos. Die Schweizer Videokünstlerin Pipilotti Rist (*1962) avancierte mit solchen Genre-Collagen zum Star der europäischen Videoszene. Poppige Farben, geschickter Einsatz der Musik und ein humorvoll-respektloser Vortrag machten ihr Video Pickelporno (1992) trotz provokanter Themen und anstößiger Bilder für ein breites Publikum verdaulich. Ein Meister des »Samplings« quer durch die Errungenschaften der gesamten Kunst- und Kulturgeschichte ist der US-Amerikaner Bill Viola (*1951). In seinen Arbeiten verschmelzen wahrnehmungstheoretische Experimente, literarische Erzähltechniken, kunsthistorische Topoi, mythologische Strukturen und Musik zu einer ästhetisch perfekten Synthese.
In den 1990er-Jahren hat sich eine große Videokunstszene etabliert – mit Festivals, Preisen und einer Reihe von neu geschaffenen Ausbildungseinrichtungen, die auf Medienkunst spezialisiert sind. 1997 wurde das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie eröffnet, die weltweit erste Institution, die sich der Verbindung von Kunst und neuen Medien widmet. Das ZKM beherbergt unter anderem ein interaktiv angelegtes Medienmuseum und eine der größten Medienkunstsammlungen der Welt. Auf der Biennale 2001 in Venedig und der Kasseler Documenta11 (2002) ist die Videokunst das beherrschende Medium. Sie verwandelt die klassischen »white cubes« der Ausstellungsräume in eine vom Ausstellungsbesucher schon rein zeitlich kaum noch zu bewältigende Serie von »black boxes«. Die formale Vielfalt ist groß und reicht von der Videoskulptur bis zu multimedialen Installationen und Environments. Die Trennung von Videokunst, Filmkunst, Dokumentarfilm, Kurzfilm und Kunstfilm erscheint in der aktuellen Szene nahezu aufgehoben. Viele Künstler*innen bevorzugen großflächige Projektionen, die eine oder mehrere Wände der Dunkelkammern ganz ausfüllen. Dadurch schaffen sie eine starke physische Präsenz der Bilder, die mit entsprechend raumfüllend eingesetztem Sound die Betrachtenden tief in das Geschehen eintauchen lassen. Die aus dem Iran stammende Künstlerin Shirin Neshat (*1957) arbeitet mit raumhohen Doppelprojektionen, die inhaltlich zusammenhängen, wobei sich die Betrachter*innen aber immer für den einen oder den anderen Blickwinkel entscheiden müssen. Die Bewegungen der Menschen in den Schwarzweißfilmen sind kunstvoll choreografiert, der Raum zwischen den Projektionsflächen scheint vom Fließen und vom Rhythmus dieser Bewegungsabläufe erfüllt, sodass sich die Zuschauer*innen mitten ins Geschehen versetzt fühlt.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Videokunst als feste Größe im Ausstellungsbetrieb etabliert und auch auf dem Kunstmarkt Fuß gefasst. Es ist aber fragwürdig, ob sie sich als eigenständige Disziplin dort auf Dauer behaupten kann oder ob sie nicht vielmehr im größeren Kontext der Medienkunst aufgehen wird. Anders als formale Experimente der achtziger Jahre erwarten ließen, hat der technische Fortschritt im Videobereich die Ästhetik des bewegten Bildes nicht grundlegend verändert. Neue Impulse – wie beispielsweise die zunehmende Tendenz zur Verbildlichung der Schrift – kommen derzeit verstärkt aus der Netz- und Medienkunst. Die Netzkunst scheint geradezu prädestiniert, einige Forderungen, mit denen die Videokunst einst angetreten war, einzulösen: Interaktivität, Überwindung der Grenzen zwischen Alltagskultur und Kunst und nicht zuletzt die völlige Loslösung vom realen Raum im virtuellen Raum des World Wide Web.