Sprache: |
INTERVIEW MIT JULIAN CHARRIÈRE
Julian Charrière, geboren 1987 im schweizerischen Morges, arbeitet als bildender Künstler in und mit verschiedenen Medien. Seine innovativen Werke verbinden Themen der Umweltwissenschaft und Kulturgeschichte und reflektieren die Komplexität unseres Verhältnisses zu unserer Umgebung. Die Performance, Skulptur und Fotografie verbindenden Projekte basieren oft auf Feldforschung an entlegenen Orten mit besonderen geophysikalischen Eigenschaften. Charrière, ein ehemaliger Student von Olafur Eliasson, erkundet postromantische Konstruktionen der "Natur" und setzt sich mit den Spannungen zwischen geologischen und menschlichen Zeitmaßstäben auseinander. Seine Interventionen bewegen sich an der Grenze von Mystik und konkreter Materialität und stellen zeitlose Bilder in einen aktuellen Kontext. Charrières Arbeiten wurden weltweit in renommierten Museen und Institutionen ausgestellt, darunter das Centre Pompidou in Paris, die Biennale in Venedig und das Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Im Gespräch mit Hatje Cantz teilt Julian Charrière seine Perspektive zum Werk von Caspar David Friedrich und wie die Erkenntnisse aus Friedrichs Arbeiten seinen eigenen künstlerischen Ansatz beeinflussen.
Hatje Cantz: Haben Sie in Ihrem Leben einen ganz persönlichen Friedrich-Moment erlebt, von dem Sie uns erzählen mögen?
Julian Charrière: Ich bin mir sicher, dass es, abhängig von der Person, sehr unterschiedliche Friedrich-Momente geben kann. Sei es das Verspüren einer Spiritualität in der Natur, oder aber einfach das Staunen über ihre zeitlichen Dimensionen, die unseren eigenen Zeithorizont weit übersteigt. Es kann etwas kleines sein, wie wenn ich die einzelnen dünnen Erdschichten im Boden betrachte, oder riesig, wie die Erschütterung eines Berges, den man für schlafend hielt. Am ergreifendsten im Hinblick auf die Ausstellung ist vielleicht die Produktion von The Blue Fossil Entropic Stories in Island, eine Intervention, die zu einer Fotoserie wurde, zu einem Dokument dessen, was man als Friedrich-Moment bezeichnen könnte, oder zumindest eine Meditation über einen solchen. Ich war auf einen schwimmenden Eisberg geklettert, der im blauen Wasser schwebend jederzeit umkippen konnte, und habe ihn acht Stunden lang ängstlich mit einer Gasfackel verbrannt. Er schmilzt und gefriert sofort wieder. Darin liegt etwas Absurdes: die Verzweiflung über unsere beschleunigte Industrie und die globale Erwärmung, aber zugleich auch die Widerstandkraft der Kälte. Natürlich ist das nur eine einzige Gasfackel, aber wenn man sie millionenfach in unseren Automotoren multipliziert, werden selbst die widerstandsfähigsten geochemischen Faktoren zerbrechlich und unberechenbar. Dieses Flackern und Gefrieren – die Geringfügigkeit unserer Handlungen und wie sie sich zu etwas unfassbar Massivem akkumuliert – durchdringt das Werk, wird in dieser Essenenz zu seinem eigentlichen Kern. Es zeigt auf den ersten Blick eine wunderschöne kryosphärische Landschaft, aber es geht um mehr, ähnlich dem Spiritualismus im Werk von Caspar David Friedrich.
HC: Können Sie uns sagen, welche Elemente aus Friedrichs Werk Sie in Ihren eigenen Kunstwerken aufgegriffen haben und welche Rolle diese in Ihrer künstlerischen Praxis spielen?JC: Ich interessiere mich sehr dafür, wie sich unsere Vorstellungen von »Natur« verändert haben. In der Romantik und zu Beginn der Industrialisierung wurden Naturphänomene als etwas verstanden, das durch die einfache Anwendung mathematischer Logik beherrscht werden konnte, wodurch eine Trennung zwischen dem geordneten Menschen und der wilden kapitalisierten Natur entstand. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns mit den Leitbildern auseinandersetzen, die diesem Ideal zugrunde liegen, und aus dem Scheitern der konzeptionellen Trennung des Menschen von seiner planetarischen Umgebung lernen, mit denen wir unwiderruflich verbunden sind. Die Untersuchung und das Hinterfragen der Vermächtnisse solcher Glaubenssysteme ist etwas, das man in den meisten meiner Arbeiten finden kann. In The Blue Fossil Entropic Stories thematisiere ich dies explizit, indem ich den Protagonisten wieder in der Umwelt platziere und die Kluft somit visuell überbrücke. Aber in Bezug auf Caspar David Friedrich gibt es eine emotionale Resonanz, die auch mich erreicht. Wenn man sich die schönen, melancholischen und erhabenen Ausblicke in seinem Werk anschaut, hat man das Gefühl, dass es hier nicht darum geht, reale Umgebungen buchstäblich abzubilden, auch wenn er seine Skizzen en plein air anfertigte. Diese Ruinen, der glühende Himmel und die trostlosen Horizonte dienen vielmehr als bildnerische Mittel, um spirituelle Begegnungen zu schaffen: Meditationen über die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und zu Gott. Auch wenn meine Werke nicht religiös sind, so spielen sie doch oft mit dieser Idee einer inszenierten Begegnung, indem sie eindringliche und bisweilen sensorisch überwältigende Erfahrungen vermitteln, durch die wir über die Bedeutungsebenen nachdenken können, die sich zwischen Betrachter und materieller Realität auftun.
HC: Warum ist Friedrichs Werk Ihrer Meinung nach heutzutage relevant?
JC: Es ist für uns von unschätzbarem Wert zu verstehen, wie sich unsere Ansichten verändert haben, von der Bewertung der Romantik als etwas, das uns fremd und andersartig erscheint, bis hin zu dem manchmal überdehnten Begriff des Anthropozäns. Es ist eine Übung in Demut, die unsere oft anmaßende Herangehensweise an die Definition und Standardisierung der Welt um uns herum sofort entlarvt. Kunsthistorisch gesehen hatte Caspar David Friedrich einen tiefgreifenden Einfluss auf das Potenzial der Landschaftsmalerei und die Art und Weise, wie sie Gefühle und Bedeutung vermitteln kann – sie markierte einen Wandel. Da sich sein Leben mit der industriellen Revolution überschneidet, ist es von großer Relevanz, seine Werke im Zusammenhang mit den Umweltveränderungen zu betrachten, die wir heute erleben. Sein Werk ist daher unauslöschlich von einer Zeit geprägt, die nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch die Zukunft bestimmt. Je besser wir die Mechanismen verstehen, die uns in die Situation gebracht haben, in der wir uns heute befinden, desto besser sind wir gerüstet, um in Zukunft positive Veränderungen zu bewirken.
Bildcredit : Headerbild: © Studio Julian Charrière; Bild im Text: Julian Charrière – The Blue Fossil Entropic Stories III, 2013 © Julian Charrière; VG Bild-Kunst, Bonn, Germany